Voneinander lernen – Seminar mit ehemaligen Pflegekindern

Voneinander lernen

„Kevin allein auf dem Flughafen – Peterchens Mondfahrt führt zu einer Pflegefamilie, er wird Meister, wenn er groß ist“

Zu einer ganz besonderen Fortbildung hatte das ZePI seine Pflegeeltern eingeladen. Diesmal ging es nicht um Wissensvermittlung über rechtliche, pädagogische und entwicklungspsychologische Themen die von einer Referent*in und ausgewiesenen Fachkraft vermittelt wurden, sondern um die echte Lebensgeschichte und Perspektive von zwei ehemaligen Pflegekindern, die wir hier Kevin und Peter nennen.

Die beiden inzwischen 29- und 30-Jährigen berichteten frei und selbstbewusst von den einschneidenden Erlebnissen, die zur Trennung von ihren jeweiligen Eltern und Geschwistern führten. Sie berichteten auch von den Schicksalswegen und Belastungen in ihrer Kindheit und von den Hilfen, die es ihnen möglich machten, ein neues Zuhause bei ihren Pflegeeltern zu finden. Dort konnten sie familiäre Bindungen und Chancen wahrnehmen, fanden Bedingungen und sie liebende Menschen, die sie durch Krisen und über Schwierigkeiten begleiteten. Heute, so berichteten die beiden strahlend, führen sie ein selbstbestimmtes und auch ein erfolgreiches Leben. Beide haben Berufsausbildungen erfolgreich abgeschlossen. Einer ist Meister geworden und hat einen Handwerksbetrieb aufgebaut. Doch beide haben noch weitere Pläne: sie wollen studieren bzw. tun das bereits.

Um es vorweg zu nehmen, Peter und Kevin sagen, dass ihre biologischen Eltern ihnen diese Entwicklungschancen nicht hätten bieten können. Sie waren dort Belastungen und schweren Gefährdungen ausgesetzt, weil die Eltern selbst mit vielen schweren Lebensproblemen zu kämpfen hatten. Eines wurde überdeutlich: Wenn es um die Eltern, die Geschwister und die familiäre Lebensweise geht, werden starke Emotionen geweckt. Es ist unmöglich, die Menschen, mit denen man verwandt ist, einfach zu vergessen oder für immer zu ignorieren! Beide berichteten, dass sie selbst an wichtigen Entscheidungen, besonders auch wenn es um die Kontakte zu ihren Familien ging, beteiligt wurden. Gerade deshalb konnten sie je einen eigenen Weg für ihre Beziehungen zu ihren Familien finden. Kevin und Peter, die beide auch noch in Kontakt mit anderen ehemaligen Pflegekindern stehen, machten deutlich, dass bei aller Unterschiedlichkeit gerade die Zusammenarbeit der Beteiligten den Kindern Frieden und Hoffnung vermitteln kann. Gelingt es nicht, eine Kooperationsebene zu finden, erleben dies viele Pflegekinder als Belastung und zusätzliche Erschwernis ihres Lebens.

In der Förderung und Moderation der Zusammenarbeit aller Beteiligten, des Kindes, der Familie, der Pflegefamilie, den Ämtern usw. sehen die Fachleute von ZePI einen entscheidenden Auftrag ihrer Beratungsarbeit. So können die Betroffenen die Lebenswirklichkeit eines Kindes zwischen zwei Familien besser annehmen und miteinander kooperieren. Wenn die Kinder und die Eltern im Rahmen der Möglichkeiten beteiligt werden und partizipieren können, seien die Chancen für eine gute Entwicklung größer. Die Traumata der Gefährdung in der eigenen Familie, der Trennung, der schwierige Neubeginn bei fremden Menschen, in einem fremden Umfeld könnten am besten mit der Partizipation aller überwunden werden.

Kevins Tante hatte von der – vielleicht traumatisierten – Mutter den Auftrag, ihn zu Verwandten im Ausland bringen. Nur Kevin besaß einen deutschen Pass und so wurde die Tante – direkt von Kevins Hand weg – verhaftet. Es wurde vermutet, dass sie ihn entführen wollte. Da lief der 4-jährige Kevin auf dem Flughafen Frankfurt einfach davon, versteckte sich, wurde nach längerer Suche wiedergefunden und in ein Kinderheim gebracht. Dort blieb er auch noch, als sich herausstellte, dass gar keine Entführung beabsichtigt war. Denn die Jugendhilfe war aufmerksam geworden und stellte offenbar fest, dass der kleine Kevin in seiner Familie nicht gut versorgt wurde und weiteren Gefahren für seine Entwicklung und Gesundheit ausgesetzt war. Die psychischen und sozialen Probleme der Eltern wurden wohl als so gravierend eingeschätzt, dass die Behörden entschieden, einen neuen Lebensort für das Kind zu suchen. Kevin selbst hat keine Erinnerung an seine Kindheit vor der Allein-auf-dem-Flughafen-Episode. Gerne würde er diese Erinnerungslücke schließen, wie Kevin sagt, um seine Eltern zu verstehen, nicht um zu verurteilen. Aber seine Eltern, zu denen er inzwischen Kontakt hat, weichen seinen Fragen aus.

Kevin lebte etwa ein Jahr im Kinderheim; dort besuchte ihn niemand, er hörte und sah von seiner Familie über lange Zeit niemanden mehr. Niemand kam, um ihn aus dem Kinderheim nach Hause zu holen, in dem Kind wuchs der Glaube, dass seine Eltern gestorben seien. Im Kinderheim, so hat es Kevin noch heute in Erinnerung, fand er freundliche und zugewandte Menschen und wurde gut behandelt. Dennoch fühlte er sich fehl am Platz, verlassen und ohne Perspektive. Nach einem für den kleinen Kevin langen und einsamen Jahr konnte eine Pflegefamilie gefunden werden. Sie besuchte ihn und Kevin griff mit dem Mut der Verzweiflung zu, und so fand er ein neues Zuhause. Kevin bekam neue Eltern und Geschwister, Großeltern und weitere Familienangehörige. Er fühlte sich nun als Kind geliebt und aufgenommen. Es gab Höhen und Tiefen. Im Kindergarten wurde z. B. der Zaun erhöht damit er nicht wieder weglaufen konnte. Als Kevin 10 Jahre alt war, so erinnert er sich, teilten seine Pflegeeltern mit, dass sein Vater sich gemeldet habe und Kontakt mit ihm haben wollte. Kevin, der bis dahin geglaubt hatte, dass seine Eltern tot seien, wollte seinen Vater kennenlernen, später auch seine Mutter und seine Geschwister aus der neuen Verbindung des Vaters. Bei all diesen Schritten konnte er sich des Verständnisses und der Begleitung durch seine Pflegefamilie sicher sein. Heute, so berichtet er, habe er zehn Geschwister, die von seinen Eltern aber auch von seinen später getrennten und neu verheirateten Pflegeeltern stammen. Die Beziehung zu den Eltern erlebt er auch heute noch als emotional belastend und dosiert die Nähe und die Kontakte so, wie es für ihn gut ist. Zur Pflegefamilie bestehen enge Kontakte, er bezeichnet sie als seine „richtige“ Familie, die ihn unterstützt und mit der er sich verbunden fühlt. Seit einiger Zeit möchte Kevin sogar deren Nachnamen annehmen. Sein eigener Familienname stammt aus einer Scheinehe der Mutter. Mit dem Namensgeber verbindet Kevin nichts Gutes. Am 08.04.2022 präsentierte Kevin sich selbst und seinen Lebensweg als ein Schicksal unter vielen, seine Kindheit in der Jugendhilfe, sein Leben mit zwei Familien, einen schon sehr früh sehr bewegten Lebensweg, mit dem er Frieden schließen konnte.

Auch Peter entstammt einer mit vielen Problemen überforderten Familie. Die Mutter leidet unter einer psychiatrischen Erkrankung, der Vater unter einer Suchterkrankung. In der einzigen Welt, die Peter in seiner Familie kannte, gab es viele Kinder, Katzen, Verzweiflung, Not und Gewalt. Manchmal haperte es sogar am Essen, da wurden die Kinder losgeschickt und sollten Essen im Supermarkt holen – oft ohne Geld. Und wenn es immer noch zu wenig war, aßen sie eben vom Katzenfutter. Die häusliche Gewalt musste zumeist die Mutter aushalten, manchmal traf sie auch die Kinder. Peter war der zweite in der Geschwisterreihe. Mit 5 Jahren kam er in eine Bereitschaftspflegefamilie, nach mehreren Monaten dann in eine andere Pflegefamilie, in der er bis zu seinem 18. Lebensjahr blieb und sich angenommen, integriert und gut gefördert fühlte.

Trotzdem wollte er schon früh selbstständig und unabhängig werden. Ohne Zögern erklärt er, dass es auch nicht immer leicht mit ihm gewesen sei. In der Schule konnte er überhaupt nicht stillsitzen; seine Unruhe und Umtriebigkeit machten es ihm schwer – die Noten entsprechend schlecht. Aber die Pflegefamilie hatte erkannt, dass Peter gerne arbeitete, praktische handwerkliche Dinge lernte. Mehrmals im Jahr konnte er seine Mutter besuchen. Dort fühlte er sich aber zunehmend unwohl, nicht nur wegen der vielen Katzen, mit deren Pflege sie so überfordert war, dass die Kleidung, auch nach einem kurzen Besuch, so stark roch, dass auch eine Wäsche nicht ausreichte. Peter wollte diese Kontakte nicht mehr und konnte erleben, dass er auf Verständnis und Unterstützung der ZePI-Fachberaterin, der Ämter und der Pflegefamilie traf. Auch seine Mutter akzeptierte letztlich seinen Wunsch. Die Erfahrung, dass auf seinen Wunsch gehört und er respektiert wurde, rechnet Peter den Beteiligten heute noch hoch an. Diese Erfahrung scheint ihn gestärkt und bestätigt zu haben.

Kevins und Peters Rückmeldungen an die Pflegeeltern: sie freuen sich, dass sie mit ihren Erfahrungen und Berichten helfen und Motivation geben konnten. Sie freuen sich, dass ihre Geschichten anderen etwas Positives bedeuten können. Und – sie kommen gerne mal wieder!

Resümee der Pflegemütter und Pflegeväter: die Veranstaltung hat ihnen Mut gemacht. Sie fühlen sich bestärkt, denn sie konnten an vielen, manchmal aus heutiger Sicht sogar heiteren Episoden aus der Kindheit von Peter und Kevin lernen: Klare Erziehungshaltungen, viel und offenes Reden mit dem Kind, Offenheit für die Familie des Kindes, Geduld und ein langer Atem lohnen sich. Allen Zweifeln und Sorgen aus dem Alltag mit ihren jetzigen Pflegekindern zum Trotz, es gibt eine große Chance, dass sie den ihnen anvertrauten Kindern helfen und eine Familie sein können. Pflegeeltern sein wird als sinnvolles soziales Engagement und auch als Bereicherung des eigenen Lebens empfunden. Es ist oft schwer, die auftretenden Probleme wirken fremd und unüberwindbar, häufig ist es emotional überraschend, berührend, und lustig … Pflegefamilie sein ist „Leben pur“. Grund genug für die Pflegeeltern zu betonen, dass sie nicht nur helfen und geben, ihre Familie für ein Kind und die Jugendhilfe öffnen, sondern dass auch sie etwas bekommen, wofür sie dankbar sind.